Gibt es ein böses Erwachen für Arbeitsverhältnisse mit höheren Stundenvergütungen?
Nachfolgend wird eine mögliche Auswirkung des gesetzlichen Mindestlohns auf einen bedeutenden Anteil laufender Arbeitsverhältnisse dargestellt.
Die wichtigste Frage im Zusammenhang mit den Absprachen der großen Koalition zum Mindestlohn ist, wie sich der neue Mindestlohn auf laufende Arbeitsverhältnisse und die dort gezahlten Vergütungen auswirkt, wie sich also der gesetzliche Mindestlohn in der Praxis auswirkt.
Praktisch und juristisch unproblematisch sind die Auswirkungen der Einführung des Mindestlohns auf Arbeitsverhältnisse, in denen bisher ein niedrigerer Lohn als brutto 8,50 € pro Stunde gezahlt wurde. Hier wird eine Verpflichtung der Arbeitgeber gegeben sein, den Mitarbeitern künftig zumindest 8,50 € brutto stündlich zu zahlen. Bestimmte Ausnahmen hier gelten schon jetzt als sicher: minderjährige bzw. junge Mitarbeiter, langjährig arbeitlose Menschen, Rentner und eventuell ältere Arbeitnehmer.
Wie könnte sich aber der Mindestlohn in solchen Arbeitsverhältnissen auswirken, in denen bisher mehr als 8,50 €/Stunde gezahlt wurde? Besteht die Gefahr, dass sich der gesetzliche Mindestlohn in der Praxis hier lohnsenkend auswirkt?
Vorab zur Erinnerung: die Koalition hat beschlossen, dass beginnend mit dem 1.1.2015 “flächendeckend und branchenübergreifend” in der Bundesrepublik ein Mindestlohn von brutto 8,50 € pro Stunde gezahlt werden muss.
Weiter zur Erinnerung: es hat auch bisher schon Lohnuntergrenzen gegeben, die von den Gerichten mit Blick auf die Praxis festgelegt und formuliert wurden: der so genannte richterliche Mindestlohn. Dieser richterliche Mindestlohn lag sehr häufig über 8,50 € pro Stunde. Er wurde wie folgt begründet:
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können zu niedrige Löhne sittenwidrig sein und gegen § 138 BGB verstoßen. Die Folge war, dass diese niedrige Lohnvereinbarung zwischen den Arbeitsvertragsparteien unwirksam war. Dieser so genannte Lohnwucher/wucherähnliches Rechtsgeschäft ist dann erfüllt,
- wenn ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht. Ein derartiges Missverhältnis nahm die Rechtsprechung bisher an,
- wenn die tatsächliche Bezahlung noch nicht einmal zwei Drittel der branchenüblichen/verkehrsüblichen Vergütung betrug. Was branchenüblich/verkehrsüblich ist, hängt wiederum von der jeweiligen Branche/dem Tätigkeitsfeld ab. Anhaltspunkte hierfür geben häufig die für diesen Tätigkeitsbereich einschlägigen Tarifverträge. Dies führte bisher dazu, dass es unterschiedliche Lohn Untergrenzen gab, je nachdem, in welcher Branche man sich bewegte. Diese Untergrenzen lagen manchmal unter, häufig aber auch über 8,50 € pro Stunde.
Unter juristischen Fachleuten wird nunmehr die Auffassung vertreten, dass diese Rechtsprechung aufgegeben werden muss, sobald der flächendeckende und branchenübergreifende Mindestlohn von brutto 8,50 € pro Stunde gelten wird.
Denn § 138 BGB ist eine so genannte zivilrechtliche Generalklausel. Sie zielt auf die Überprüfung von rechtsgeschäftlichen Handlungen, für die es keinen klaren gesetzlichen Prüfungsmaßstab gibt. Prüfungsmaßstab sind dann ethische Grundprinzipien. § 138 BGB kann daher dann als Prüfungsnorm nicht herangezogen werden, wenn es klare gesetzliche Regelungen gibt.
Gibt es nun mit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns diese eindeutige gesetzliche Regelung, die einen Rückgriff auf § 138 BGB verbietet? Wer diese Frage mit Ja beantwortet, darf Fragen der Lohnhöhe künftig nicht mehr an § 138 BGB messen. Er darf dementsprechend auch Vergütungen, die zwar höher sind als 8,50 €, aber immer noch sehr viel niedriger als die in der jeweiligen Branche üblicherweise gezahlten Vergütungen, nicht mehr für sittenwidrig erklären und eine Verpflichtung des Arbeitgebers aussprechen, dem jeweiligen Arbeitnehmer/der Arbeitnehmerin eine Vergütung in Höhe des branchenüblichen Lohns zu zahlen. Allein maßgebend für alle Branchen, Tätigkeiten und Regionen in Deutschland ist dann nur noch der von der Koalition beschlossene gesetzliche Mindestlohn. Von diesem Mindestlohn werden nach dieser Auffassung alle Arbeitsverhältnisse erfasst.
Ein Beispiel:
Die Tarifverträge der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen sehen einen Stundenlohn zwischen 14,17 € und 36,48 € ab April 2014 vor. Darüber hinaus werden Leistungszulagen von durchschnittlich 10 % gezahlt. Wenn nun der bisherige Prüfungsmaßstab des Bundesarbeitsgerichts zugrundegelegt wird, steht jedem Mitarbeiter dieser Branchen in nicht tarifgebundenen Unternehmen ein Stundenlohn zwischen 9,45 € und 24,32 € zu. Zusätzlich sind zwei Drittel der tariflichen Leistungszulage zu zahlen. Mit Einführung des flächendeckenden und branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohns könnten diese Lohnuntergrenzen auf 8,50 € pro Stunde sinken, unabhängig von der Art der Tätigkeit und der Betriebszugehörigkeit.
Ein Arbeitgeber kann sich daher künftig auf den Standpunkt stellen, er müsse an seine Mitarbeiter nicht mehr als 8,50 € pro Stunde zahlen, auch wenn sehr viel höhere Vergütungen bisher durchaus branchenüblich waren. Wenn kein höherer branchenspezifischer Mindestlohn festgelegt wurde, keine Tarifbindung vorliegt und auch arbeitsvertraglich nichts anderes vereinbart wurde, muss der Arbeitgeber nicht mehr zahlen weil die Drohung des § 138 BGB nicht mehr im Raum steht.
Was könnte dies für die Praxis bedeuten?
Bei Neueinstellungen in nicht tarifgebundenen Unternehmen könnten gerade weniger qualifizierte Mitarbeiter künftig nur noch den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, obwohl höhere Vergütungen in diesen Unternehmen in der Vergangenheit durchaus üblich waren. Dies könnte auch dann gelten, wenn dieser Mindestlohn von 8,50 € mehr als ein Drittel unter den üblichen Vergütungen liegt.
In laufenden Beschäftigungsverhältnissen werden Lohnerhöhungen schwerer durchsetzbar sein, selbst wenn in den entsprechenden Tarifverträgen zwischen den Tarifvertragsparteien Lohnerhöhungen vereinbart wurden. Dies gilt jedenfalls so lange, wie die Vergütung in diesen laufenden Beschäftigungsverhältnissen über dem gesetzlichen Mindestniveau liegt.
Es darf vermutet werden, dass eine derartige Folge vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt ist. Damit haben es die Großkoalitionäre noch in der Hand, durch entsprechende gesetzliche Festlegungen zu vermeiden, dass es zu der soeben dargestellten, flächendeckenden Reduzierung und Deckelung von Vergütungen kommt.